Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Chotjat li russkie woiny?, Meinst du, die Russen wollen Krieg? hieß ein Gedicht des sowjetischen Dichters Jewgenij Jewtuschenko, später als Lied vertont, in meiner Kindheit habe ich es oft im Radio gehört.

Von Chaim Noll
Jewtuschenko, geboren 1932 mitten in Sibirien, nahe der mongolischen Grenze, kam als Zwölfjähriger nach Moskau, unternahm immer wieder geologische Exkursionen in die Tiefen des russischen Kontinents, er war begabt, witzig, geschickt in der Nutzung der Poesie zum Aussprechen politischer Botschaften. Er wurde ein Liebling der russischen Jugend, die während des Krieges aufgewachsen war, tapfer, an Entbehrungen gewöhnt, voller Liebe zu ihrer Heimat, voller Kritik an ihrer damaligen Situation.
Er kam gerade richtig in die Tauwetter-Periode nach Stalins Tod. Bekannt wurde er um 1956, dem Jahr der berühmten „Geheimrede“ Nikita Chruschtschows, der sich nach langen internen Kämpfen, verbunden mit Liquidationen und Verhaftungen, als neuer Parteichef durchgesetzt hatte. Wenn Jewtuschenko öffentlich las oder – ähnlich seinem Vorbild Majakowski – mit großem Pathos seine Gedichte auswendig deklamierte, kamen Tausende. Er füllte Fußballstadien wie ein Popstar, einmal musste berittene Miliz eingesetzt werden, so groß war der Andrang. „Er war einer, den das Regime gerade noch duldete – was auch daran lag, dass sich Jewtuschenko nie frontal mit ihm anlegte“, schrieb Thomas Schmid anlässlich seines Todes. Viele hielten ihn für einen Opportunisten, doch offensichtlich war Jewtuschenko die Gratwanderung irgendwann leid. 1968 bekam er Ärger mit der Parteiführung, als er sich gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag aussprach. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in den USA, wo er 2017 starb. Er hatte in Tulsa, Oklahoma, eine Professur und schien sich dort wohl zu fühlen. Seinen Leichnam ließ die Witwe auf Drängen der russischen Machthaber nach Moskau überführen, um ihn im Intellektuellen-Vorort Peredelkino beisetzen zu können.
Jewgenij Jewtuschenko hatte das Selbstgefühl Russlands nach dem Zweiten Weltkrieg, dem „Großen Vaterländischen Krieg“, wie er offiziell hieß, auf grandiose Weise in Verse gefasst: Es war das erhebende, das Volk einende Bewusstsein, den Krieg nicht angefangen, aber gewonnen zu haben. Russland war am 21. Juni 1941 unter Bruch des Nicht-Angriffs-Paktes von Hitler-Deutschland heimtückisch überfallen worden – anders kann man es nicht nennen. Die Sowjetunion zeigte sich auf den Krieg denkbar schlecht vorbereitet, die Rote Armee schlecht organisiert, die Rüstungsindustrie steckte in den Kinderschuhen, und eben hatte Stalin im Zuge der „Großen Säuberungen“ einen Großteil des Offizierscorps erschießen oder in die Lager deportieren lassen, vor allem die höheren Ränge. Von fünf Marschällen waren noch zwei am Leben, ähnlich dezimiert waren Generalität und Stäbe. Die ersten Wochen des Krieges schienen für die hochgerüstete deutsche Wehrmacht leicht wie ein Kinderspiel.
Dem Massenmord an 36.000 ukrainischen Juden gewidmet
Zur Zeit meiner Kindheit und Jugend ist viel darüber nachgedacht worden, warum Hitler-Deutschland den Krieg dennoch verloren hat. Hunderte Bücher, historische, militärwissenschaftliche, politologische Studien beschäftigten sich mit der Frage, warum die deutschen Divisionen trotz ihrer enormen militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit zurückgeschlagen, aufgerieben, vernichtet wurden. Und warum Russland, trotz anfänglicher katastrophaler Verluste, den Krieg gewinnen konnte. Obwohl dort selbst ein totalitäres, dem der Nazis nicht unähnliches System herrschte, das stalinistische.
Jewtuschenko wurde berühmt durch sein Gedicht Babij Jar, das dem Massenmord an 36.000 ukrainischen Juden gewidmet war, erschossen von Soldaten der deutschen Wehrmacht in einer Schlucht nahe Kiew. Die sowjetische Propaganda, geprägt vom Judenhass der Stalin-Zeit, versuchte zu verschweigen, dass die in Babij Jar ermordeten Sowjetbürger Juden gewesen waren. Jewtuschenko sprach es als Erster offen aus – damals ein Zeichen von ungeheurem Mut. Dafür wurde er in Russland gefeiert. Die von Hitlers Divisionen überfallenen Russen und Ukrainer fühlten Solidarität mit den Juden, trotz der antisemitischen Tradition in beiden Ländern. Paul Celans berühmte deutsche Nachdichtung des Gedichts endet mit den Zeilen: „Jedes hier erschossene Kind –: / ich./ Nichts, keine Faser in mir,/ vergisst das je!/(...) Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern. / Aber verhasst bin ich allen Antisemiten./ Mit wütigem schwieligem Hass,/ so hassen sie mich –/ wie einen Juden./ Und deshalb bin ein wirklicher Russe.“
Der Krieg hatte das Selbstgefühl Russlands gewandelt: Man hatte erlebt, was es heißt, Opfer zu sein, und, gleich darauf, was es heißt, Sieger zu sein. Großmütige Sieger – das war es, was die meisten Russen sein wollten. Es war das Ideal, von dem sie träumten, und das Jewtuschenko in seinen Gedichten in klingende Worte fasste. Die Realität sah anders aus, schon im besiegten Deutschland beging die sowjetische Armee Grausamkeiten, und in dem Jahr, in dem das Poem Babij Jar erschien, wurde die Berliner Mauer gebaut. Das Bild vom edlen Sieger blieb ein Traum. Doch als Traum blieb es erhalten, als Bild von sich selbst, als Hoffnung, wie Russland sein könnte. Man war überfallen, gedemütigt, zum Opfer gemacht worden, man hatte die Leiden der Verfolgung und Verachtung in ihrer ganzen Tiefe erlebt – durch fremde Aggressoren und durch die eigenen Führer –, doch man war aufgestanden aus diesem Elend, hatte den Krieg gegen Hitler gewonnen, das weitgehend zerstörte Land wieder aufgebaut, man war sogar einigermaßen mit dem eigenen Übel, dem Stalinismus, fertig geworden, alles unter ungeheuren Opfern und in die Millionen gehendem Blutzoll, doch je größer das eigene Opfer, umso größer der Stolz.
Man kann einen Krieg nur gewinnen mit Menschen, die wissen, wofür sie kämpfen
Dieses Selbstgefühl hat der russische Autokrat Putin am 24. Februar 2021 mit einem Schlag zerstört. Er hat das Volk der stolzen Überwinder des Elends, der stolzen Sieger eines ihnen aufgezwungenen Krieges erneut gedemütigt. Wer kann sich vorstellen, was es für einen Russen bedeutet, den Satz auszusprechen: „Ich schäme mich, ein Russe zu sein“? Und doch ist es seit dem 24. Februar hundertfach und weltweit geschehen. Der Despot im Kreml wundert sich, warum seine Truppen nicht, wie geplant, in der Ukraine vorankommen, warum die Aggression stockt, er wundert sich wie weiland Hitler, als seine siegreichen Divisionen vor Moskau und Stalingrad zu Schanden gingen. Doch es geschieht aus dem gleichen Grund: Man kann einen Krieg nur gewinnen mit Menschen, die motiviert sind, die wissen, wofür sie kämpfen.
Meinst du, die Russen wollen Krieg? Nein, sie wollen ihn auch diesmal nicht. Doch diesmal ist Russland der Aggressor, der ein schwächeres Nachbarland überfällt. Die jungen Russen werden diesmal schlecht und lustlos kämpfen, denn diesmal fehlt die Motivation. Die riesige Kriegsmaschinerie wird versagen, die Wirtschaft des Landes kollabieren, Amerikaner, Briten, Franzosen werden diesmal nicht Verbündete sein, sondern Gegner; selbst scheinbare Erfolge werden sich als Pyrrhos-Siege erweisen. Putins Untertanen werden begreifen, dass dieser Krieg hoffnungslos ist und sie selbst Opfer sind. Russische Bomben werden in ukrainischen Städten weitere Kinder töten, und die russischen Soldaten werden es in dem Gefühl erleben, das Jewgenij Jewtuschenko beschrieb: Jedes hier erschossene Kind – ich.
Autor: Chaim Noll
Bild Quelle: Von Vitaly V. Kuzmin - http://www.vitalykuzmin.net/Military/Rehearsal-in-Alabino-05April2017, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57968880
Donnerstag, 03 März 2022